Hindsight Bias: So vermeidest du den Rückschaufehler
Rückblickend scheinen die Dinge oft eindeutig: War doch klar, dass das passieren würde – es musste ja so kommen! Wer so denkt, bei dem liegt wahrscheinlich ein Hindsight Bias, auch bekannt als Rückschaufehler, vor. Was genau sich hinter dem psychologischen Phänomen verbirgt, wie es sich äußern und welche Folgen es haben kann, erfährst du hier. Außerdem geben wir dir Tipps, wie du verhindern kannst, dass es überhaupt zu einem Hindsight Bias kommt.
Hindsight Bias: Was ist das?
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Manche Menschen sind nach dem Eintritt eines bestimmten Ereignisses überzeugt, dass es so kommen musste und alles auf diesen Ausgang hingedeutet hat. Oft attestieren sie sich selbst dabei ausgezeichnete Prognosefähigkeiten: „Hab ich’s nicht schon die ganze Zeit gesagt?“.
Bloß: Diese Einschätzung trügt, denn tatsächlich wussten es eben die wenigsten Menschen „schon die ganze Zeit“. Vielmehr liegt ein Rückschaufehler vor, auch bekannt unter der englischen Bezeichnung Hindsight Bias. Man spricht auch vom „I knew it all along effect“ („Ich wusste es die ganze Zeit“).
Der Hindsight Bias ist ein Phänomen aus der Kognitionspsychologie. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine kognitive Verzerrung, es kommt zu einem systematischen Urteilsfehler. Betroffene sind überzeugt, dass sie etwas wussten oder vorausgesehen haben, was sie gar nicht tatsächlich genau so vorhergesagt haben. Dass sie die Entwicklung in Wahrheit anders prognostiziert haben, wird verdrängt.
Wahrscheinlichkeit und Vorhersehbarkeit von Entwicklungen werden überschätzt
Bei einem Rückschaufehler erhalten Menschen neue Informationen zur Entwicklung eines Sachverhalts, die ihren Blick auf die Vergangenheit und ihre bisherigen Sichtweisen verändern. Charakteristisch ist dabei, dass viele Menschen in einer solchen Situation dazu neigen, zwei Dinge zu überschätzen: die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis genau so eintritt, und die Vorhersehbarkeit dieser Entwicklung.
Wenn der Ausgang einer Entwicklung feststeht, scheint für viele Menschen klar, dass die Dinge sich genau so hätten entwickeln müssen – ungeachtet dessen, was sie selbst im Vorfeld darüber gedacht haben. Passt die eigene Prognose nicht zur tatsächlichen Entwicklung, wird sie entsprechend angepasst.
Dabei war die Ausgangslage, die zur Bildung eines bestimmten Urteils geführt hat, vor und nach dem Eintritt eines Ereignisses nicht dieselbe. Dass im Nachhinein auf der Hand zu liegen scheint, dass geschehen musste, was geschehen ist, hängt mit den seither bekannt gewordenen zusätzlichen Informationen zusammen, die man eingangs gar nicht hatte.
Auf welchen Ebenen kommt es zum Hindsight Bias?
Beim Rückschaufehler geht man in der Psychologie davon aus, dass er auf drei Ebenen stattfinden kann:
- Erstens auf der Gedächtnisebene: Erinnerungen werden verzerrt oder man kann sich nicht genau daran erinnern, von welcher Entwicklung man ausgegangen ist – ist aber nichtsdestotrotz sicher, dass die eigene Prognose in die richtige Richtung ging
- Zweitens auf der Glaubensebene: Man glaubt daran, dass bestimmte Entwicklungen unausweichlich waren
- Drittens bei der Selbsteinschätzung: Man schätzt die eigenen Fähigkeiten und die Vorhersehbarkeit bestimmter Ereignisse falsch ein („Hab ich’s nicht gesagt?“)
Rückschaufehler: Beispiele
Zu einem Hindsight Bias kann es in vielen Lebenslagen und Umständen kommen. Besonders häufig tritt der Rückschaufehler auf, wenn es um Schuldzuweisungen und Versäumnisse geht.
Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass ein Mensch getötet wurde und die Polizei einen Verdächtigen festgenommen hat. Weil es nicht genügend Hinweise auf dessen Beteiligung an dem Verbrechen gibt, muss die Polizei ihn wieder laufenlassen. Später kommen neue Informationen ans Licht, der Mann war es doch – und der Polizei wird vorgeworfen, dass sie den Mann hat gehen lassen, obwohl doch alles gegen ihn sprach. Schließlich hätte man es doch ahnen können, dass es sich tatsächlich um den Täter handelte.
Ein anderes Beispiel ist eines, das in Experimenten untersucht wurde. Dabei wurden die Versuchsteilnehmer gebeten, die Höhe des Eiffelturms zu schätzen. Anschließend erfuhren sie, wie hoch der Eiffelturm tatsächlich ist. Fragte man sie später noch einmal nach ihrer ursprünglichen Schätzung, korrigierten sie diese in Richtung der korrekten Antwort.
Beispiele für den Hindsight Bias im Beruf
Für den Rückschaufehler gibt es auch Beispiele im Beruf. Angenommen, ein Unternehmen stellt eine neue Mitarbeiterin ein, die die nötigen Qualifikationen mitzubringen scheint. Im Laufe der Zeit fällt aber auf, dass sie sich in bestimmten Dingen doch nicht so gut auskennt wie sie in ihrer Bewerbung behauptet hat. Womöglich wird nun dem Verantwortlichen, der die Frau eingestellt hat, die Schuld gegeben: Warum hat er nicht vorher schon gesehen, dass die Bewerberin nicht geeignet ist? Eine solche Schuldzuweisung ist umso wahrscheinlicher, je mehr Indizien für die mangelnde Eignung der Frau später ans Licht kommen.
Oder stellen wir uns vor, ein Team plant ein Firmenevent. Weil die Cateringfirma nicht rechtzeitig vor Ort ist, müssen die Gäste länger auf ihr Essen warten und werden missmutig. Später müssen sich die Organisatoren womöglich vorwerfen lassen, sie hätten eine Firma beauftragt, die unzuverlässig ist. Dabei konnte das Planungsteam das nicht unbedingt vorher wissen – vielleicht hatte die Cateringfirma gute Bewertungen und nichts deutete darauf hin, dass sie nicht vertrauenswürdig wäre.
Ursachen: Warum kommt es zu einem Rückschaufehler?
Wohl die meisten Menschen haben schon mal einen Rückschaufehler gemacht, auch wenn es ihnen nicht bewusst sein mag. Wie entsteht ein Hindsight Bias? Verschiedene Faktoren spielen dabei nach Ansicht von Kognitionspsychologen eine Rolle.
Wie ein Sachverhalt sich entwickeln wird, lässt sich oft kaum vorhersehen. Es mangelt häufig an fundierten Fakten und umfassenden Informationen. Stattdessen führen Halbwissen und gesunder Menschenverstand zu einer Einschätzung der Situation. Menschen bilden sich Urteile in vielen Fällen auf Grundlage lückenhafter Informationen, die noch dazu falsch sein können. Damit ist es kein Wunder, dass wir häufig nicht richtig liegen mit unseren Einschätzungen.
Wenn ein Rückschaufehler auftritt, sind daran kognitive Prozesse beteiligt. Das menschliche Gedächtnis ist nicht perfekt, Denkfehler können passieren. Wenn Menschen neue Informationen erhalten, werden die schon im Gehirn gespeicherten Informationen zum selben Thema dadurch überlagert – das haben die Experimente zur geschätzten Höhe des Eiffelturms gezeigt.
Der Hindsight Bias als Selbstschutz
Auch motivationale Prozesse spielen beim Hindsight Bias eine Rolle. Lag man mit seiner Einschätzung falsch, bedroht das das eigene positive Selbstbild. Der Wunsch nach kognitiver Geschlossenheit kann dann dazu führen, dass man Dinge im Nachhinein anders einschätzt und zugleich behauptet, man habe es „schon immer“ so gesehen.
Menschen, die zur Selbstdarstellung neigen und denen ihr Status sehr wichtig ist, neigen dadurch auch stärker zum Rückschaufehler als andere. Das heißt nicht, dass ihnen bewusst sein muss, dass ihnen im Vorfeld eben nicht klar war, welche Entwicklung die Dinge nehmen würden. Diese Prozesse können unterbewusst ablaufen. Besonders häufig kommt der Hindsight Bias außerdem bei Menschen vor, die Dinge sehr dogmatisch sehen und die ein starkes Bedürfnis nach vorhersehbaren Abläufen und Strukturen haben.
Warum der Hindsight Bias gefährlich sein kann
In vielen Fällen hat ein Hindsight Bias keine nennenswerten Auswirkungen. Es kann aber auch passieren, dass der Rückschaufehler Folgen hat, die für die betreffende Person oder andere Menschen nachteilig sind.
Wenn jemand davon überzeugt ist, dass er eine Situation von Anfang an durchschaut und richtig eingeschätzt hat, kann das zu einem übersteigerten Vertrauen in die eigenen Urteile und Sichtweisen führen. Wer sich auf diese Weise überschätzt, wird womöglich leichtsinnig und macht schlimmstenfalls schwerwiegende Fehler. Außerdem besteht die Gefahr, dass andere genervt sind, wenn man sich permanent als jemand darstellt, der alles besser weiß. Das kann Beziehungen im Privatleben und im Beruf belasten. Wer beispielsweise im Team als Besserwisser auftritt, macht sich damit keine Freunde, sondern kann zum Außenseiter werden, der von anderen gemieden wird.
Wer die Umstände, die zu einem Ereignis geführt haben, auch rückblickend nicht nüchtern beurteilen kann, sondern sie von vornherein im Sinne einer bestimmten Grundhaltung interpretiert, kann Situationen nicht objektiv analysieren. Das ist insofern problematisch, als dass die Betroffenen aus Fehlern oder Fehleinschätzungen nicht lernen können. Es kann dadurch sein, dass sie sich in ihrer Haltung bestätigt fühlen und beim nächsten Mal noch stärker voreingenommen sind.
Was der Rückschaufehler mit Verschwörungstheorien zu tun hat
Eine aus Rückschaufehlern resultierende Selbstüberschätzung ist insbesondere dann problematisch, wenn Führungskräfte davon betroffen sind. Wer glaubt, dass er ohnehin alles richtig eingeschätzt und korrekt agiert hat, bemerkt nicht, wenn er Fehler macht. Dadurch können sich Verhaltensweisen, die auf solchen Denkfehlern beruhen, verfestigen – mit oft großen Risiken für den Betroffenen selbst, den Arbeitgeber und die Mitarbeiter.
Der Hindsight Bias kann auch wegen der damit einhergehenden Verzerrung gefährlich sein. Unter dem Eindruck eines Rückschaufehlers sehen viele Menschen überall Zusammenhänge, obwohl es sich ebenso gut um Zufälle handeln könnte. Das sehen die betroffenen Menschen aber nicht so – sie sind überzeugt, dass die vermeintlichen Zusammenhänge ihre Vorannahme bestätigen. Besonders schwerwiegend ist das, wenn Verschwörungstheoretiker Menschen gezielt in eine bestimmte Richtung lenken möchten. Dabei setzen sie Ereignisse oftmals sehr willkürlich in Zusammenhang miteinander und sehen sich durch kleinste Hinweise in ihrer Einschätzung bestätigt.
Durch den Rückschaufehler kommt es immer wieder vor, dass Menschen andere Menschen zu Unrecht verurteilen. Das kann zu einer langfristigen negativen Einschätzung dieser Person führen. Für die Betroffenen kann das unangenehme Folgen haben: Wenn der Chef zum Beispiel glaubt, dass man einen vermeidbaren Fehler gemacht hat, ist er womöglich bei der nächsten Gelegenheit skeptisch, ob man seinen Job gut machen wird. Vielleicht überträgt er wichtige Aufgaben lieber einem Kollegen. Dadurch können Aufstiegschancen ebenso leiden wie die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes.
Was kann man gegen den Rückschaufehler tun?
Der Hindsight Bias ist ein Phänomen, das im Alltag häufig zu beobachten ist – nicht immer, aber oft genug mit gravierenden Auswirkungen. Kann man verhindern, dass ein Rückschaufehler entsteht, und wenn ja, wie?
Weil kognitive Prozesse meist unterbewusst ablaufen, ist es schwierig, einen Hindsight Bias gänzlich zu verhindern. Das heißt aber nicht, dass du dagegen gar nichts tun kannst. Denn du hast selbst in der Hand, wie du auf Informationen reagierst und wie bereitwillig du sie als Wahrheit annimmst.
Der erste Schritt, um die Gefahr eines Rückschaufehlers zu minimieren, besteht deshalb darin, dir bewusst zu machen, dass diese Gefahr überhaupt besteht. Im zweiten Schritt solltest du kritisch hinterfragen, wie du auf Ereignisse und neue Informationen reagierst. Mache es dir zur Angewohnheit, innezuhalten und dich zu fragen, ob du wirklich vorher gewusst hast, wie etwas ausgeht, und ob man diesen Ausgang wirklich hätte vorausahnen müssen oder können.
Lasse dich nicht von der Einschätzung anderer anstecken
Besonders vorsichtig solltest du mit deinen Urteilen sein, wenn du begrenzte Informationen über einen Sachverhalt hast. Rückblickend weiß man immer mehr und es ist leicht, darüber zu urteilen, wie sich jemand verhalten hat. Aber wer sagt, dass du dich nicht genauso verhalten hättest – weil es eben nicht offensichtlich war, in welche Richtung sich eine Sache entwickeln könnte?
Sei skeptisch, wenn andere dir weißmachen möchten, dass ein bestimmtes Ergebnis unausweichlich oder vorhersehbar war. Lasse dich nicht dazu drängen, eine solche Einschätzung von anderen zu übernehmen, sondern bilde dir dein eigenes Urteil – oder akzeptiere, dass du zu wenig über eine Sache weißt, um dir ein Urteil darüber bilden zu können.
Bildnachweis: Roman Samborskyi / Shutterstock.com